🥶Tanja hatte Angst beim Kündigen
Hoi
Als ich zum ersten Mal im Leben in der Öffentlichkeit eine Frau küsste, wurden uns unangenehme Kommentare zugerufen. 2020 kündigte ich meinen geregelten, gut bezahlten Job (und hatte ganz schön Angst das zu tun 🥶) und ich verkaufe seither meine Arbeit nicht mehr. In unserem Projekt bestimmen wir Löhne nicht basierend auf Leistung. Ich zwinge meinen Sohn nicht, beim Essen stillzusitzen und meine Familie sieht es als Provokation, dass ich meine grauen Haare nicht färbe.
Erraten, heute geht es ums Normen-Brechen.


Komm mit uns in die Berge! Empathie Stadt Wochenende Wangs (Pizol) «The Road Less Travelled» 24. – 26. Mai 2024
zwei Dinge vorweg, unten verlinkt
- 10. sE>ndung «KomplE>xität zulassen» mit Flavien Gousset
- Gülsha Adilji schwärmt 30 Minuten lang über unseren Grundlagenkurs.
Neben dem Essay von mir (Tanja Walliser) zum Thema Normen-Brechen, habe ich euch unten die neueste sE>ndung von Michelle Reichelt verlinkt.
🎧 Flavien erzählt, warum er als Video-Aktivist maximal ersetzbar sein will, wie es ihm geht, wenn er in der Öffentlichkeit angesprochen wird (es ist komplex) und was er am Ansatz der Empathie Initiative schätzt. Es geht ausserdem um Emotionen, Empathie, Demokratie und wie es der Name sagt, vieles mehr.
🎧 In ihrem Podcast zusammen mit Jenny schwärmt Gülsha (direkt nach den Date-Updates) über den aktuellen Grundlagenkurs, den sie bei uns besucht. Danke für die Bluuumen. 😍
Ausserdem:
- Komm mit uns in die Berge! Empathie Stadt Wochenende Wangs (Pizol) «The Road Less Travelled» 24. – 26. Mai 2024
- Der zweite E> Grundlagenkurs in Bern ist bereits halb voll.
- Der nächste E> Grundlagenkurs in Zürich zu 2/3. 🎉
Essay: Die Polarisierung zweier überlebenswichtiger Gruppen von Bedürfnissen – Zugehörigkeit und Sicherheit vs. Freiheit und Authentizität – ist eine Art, wie wir gesellschaftlich davon abgehalten werden, die Welt abseits ausgetretener Pfade zu erkunden und Normen zu brechen, die uns nicht guttun.



Ich möchte Normen in ihrer Natur sichtbar machen. Sie sind soziale Abmachungen und nicht naturgegebene Gesetzmässigkeiten. Ich wünsche mir eine Kultur, in der wir Normen regelmässig unter die Lupe nehmen und entscheiden, ob wir sie beibehalten oder loslassen wollen.
Drei Vorbemerkungen
- Ich habe das Privileg, in der Schweiz geboren zu sein, weiss und able-bodied zu sein und eine Ausbildung gemacht zu haben, die es mir ermöglichte, Arbeit zu verrichten, mit der ich in meine Pensionskasse einzahlen konnte. Somit konnte ich kündigen und mir meine Pensionskasse auszahlen lassen, um während der Entstehung der Empathie Stadt Zürich eineinhalb Jahre lang mein Leben und das Leben meines Sohnes zu finanzieren. (Dieses Geld ist jetzt aufgebraucht und ich lebe ausschliesslich von dem, was durch die Empathie Initiative zusammen kommt.) Ausserdem habe ich genug emotionale Stabilität und soziale Unterstützung, dass ich mit gewissen gesellschaftlichen Normen brechen kann, ohne dabei in gravierende Lebensumstände zu fallen. Bei weitem nicht alle haben diese Chancen. Diese Ungerechtigkeit macht mich rasend.
- Es gibt viele, die sich bei weitem mehr exponieren als ich, in dem sie mit gesellschaftlichen Normen brechen. Ihr habt meine immense Wertschätzung!
- Ich sage keineswegs, dass alle Normen schlecht sind. Es ist zum Beispiel eine ethische Norm, dass wir einander nicht töten, wenn wir anderer Meinung sind. Das ist eine äusserst sinnvolle Norm. Ich möchte lediglich Normen brechen, die mir und anderen nicht guttun. Ich möchte Normen in ihrer Natur sichtbar machen. Sie sind soziale Abmachungen und nicht naturgegebene Gesetzmässigkeiten. Ich wünsche mir eine Kultur, in der wir Normen regelmässig unter die Lupe nehmen und entscheiden, ob wir sie beibehalten oder loslassen wollen.
Soviel vorweg. Ich beginne nun mit dem Thema der systematischen Trennung gewisser fundamentaler menschlicher Bedürfnisse. Die Trennung, die ich beschreibe, unterstützt die Aufrechterhaltung von Normen, die weder uns noch der mehr-als-menschlichen Welt guttun.
Unsere Gaben und Leidenschaften – darunter lebenswichtige Tätigkeiten in den Bereichen Kunst, Care, Aktivismus und Regeneration – die in unserer Gesellschaft nicht finanziell belohnt (oder gar sanktioniert) werden, bekommen höchstens einen Platz in der Freizeit (oder hinter vorgezogenen Gardinen), sofern wir zu den privilegierten Menschen gehören, die neben ihrer Lohnarbeit Energie übrig haben.

Im Namen der Zugehörigkeit eifern wir beflissen entlang eines vorgeschriebenen linearen Lebenswegs. Im Namen der Sicherheit gehorchen wir für den grössten Teil unseres Lebens dem gegebenen Wirtschafts-Leistungs-Lohnarbeits-System.
Zu sehen, wie andere ihre Freiheit ausleben, konfrontiert uns oft auch mit unserer eigenen Unfreiheit.
Diese Trennung hat System
Eine Weise, wie wir* in unserer Gesellschaft davon abgehalten werden, die Welt abseits ausgetretener Pfade zu erkunden und Normen zu brechen, die unsere Bedürfnisse nicht erfüllen, ist die kulturelle Trennung und Polarisierung zweier überlebenswichtiger Gruppen von Bedürfnissen. Die eine Gruppe umfasst Bedürfnisse wie Zugehörigkeit und Sicherheit, die andere Gruppe enthält Freiheit und Authentizität.** Das Fiasko dieser Sozialisierung besteht darin, dass wir vor eine binäre Wahl gestellt werden. Unser Alltag ist davon geprägt, dass wir uns zwischen diesen beiden Gruppen von Bedürfnissen entscheiden müssen.*** Entweder wir erleben Zugehörigkeit und Sicherheit oder wir sind frei und authentisch. Die gleichzeitige Erfüllung dieser Bedürfnisse ist rar. Diese Trennung hat System und unterstützt die Aufrechterhaltung von Normen, die weder uns noch der mehr-als-menschlichen Welt guttun.
Zugehörigkeit und Sicherheit vs. Freiheit und Authentizität
Allein, dass ich mir die Freiheit nehme, meine zunehmend grauen Haare nicht zu färben, scheint in meiner Familie als Provokation wahr genommen zu werden. Zu sehen, wie andere ihre Freiheit ausleben, konfrontiert uns oft auch mit unserer eigenen Unfreiheit.
Zur Gesellschaft dazuzugehören und in Sicherheit zu sein, kann damit einhergehen, dass wir die Freiheit verlieren, ein Leben in Authentizität zu führen und in unserer lokalen Gemeinschaft das beizutragen, was unserem Wesen entspricht. Im Namen der Zugehörigkeit eifern wir beflissen entlang eines vorgeschriebenen linearen Lebenswegs: Geburt, Schule, berufliche Ausbildung, Karriere, Heterobeziehung, gemeinsame Wohnung, Kinder, Pensionierung, Grosskinder, Tod. Im Namen der Sicherheit gehorchen wir für den grössten Teil unseres Lebens dem gegebenen Wirtschafts-Leistungs-Lohnarbeits-System. Unsere Gaben und Leidenschaften – darunter lebenswichtige Tätigkeiten in den Bereichen Kunst, Care, Aktivismus und Regeneration – die in unserer Gesellschaft nicht finanziell belohnt (oder gar sanktioniert) werden, bekommen höchstens einen Platz in der Freizeit (oder hinter vorgezogenen Gardinen), sofern wir zu den privilegierten Menschen gehören, die neben ihrer Lohnarbeit Energie übrig haben.
Ausserdem lernen wir uns zu schämen, wenn unsere Leben nicht dem vorgeschriebenen Pfad entsprechen. Krankheit, Abweichung von Beziehungsnormen (dazu gehören nicht nur Queerness, sondern auch das sog. «single» sein sowie Trennungen und Scheidungen), geringer Lohn, wenig prestigeträchtige Arbeit, Kinderlosigkeit etc. gelten als Misserfolg. Eine Form, wie diese Scham genährt wird, ist durch Missbilligung.
Ich ernte beispielsweise regelmässig schweigende oder lautstarke Missbilligung, wenn ich die Norm, dass Kinder während des Essens still sitzen müssen, bei meinem Sohn nicht durchsetze, weil ich seine körperliche Autonomie und seine Bewegungsfreiheit höher priorisiere als das Lernen von Manieren. Obwohl mich das stark trifft, handelt es sich dabei dennoch um eine verhältnismässig moderate Missbilligung. Die Marginalisierung und Stigmatisierung von Menschen, die sich weiter weg von gesellschaftlichen Normen bewegen als ich, kann bis hin zu schwerwiegende körperliche und psychische Konsequenzen mit sich bringen.
* Wenn ich «wir» schreibe, meine ich alle Menschen, die in einer ähnlichen Kultur leben wie ich. Gleichzeitig vermute ich, dass einiges, worüber ich heute schreibe, aufgrund globaler Trends auf andere Länder und Sub-Kulturen übertragen werden kann. Zu welchem Grad kann ich nicht abschätzen. Ich möchte es den Lesenden überlassen, diesen Text mit ihren gesellschaftlichen Erfahrungen zu vergleichen und allenfalls anzupassen.
*** Selbstverständlich gilt das nicht immer. Es gibt auch in unserer Kultur Momente, in denen diese Bedürfnisse vereinbar sind. Ich beschreibe hier lediglich eine Tendenz.
Aufgrund der Freiheit, die ich mir genommen habe, meine authentische Art zu lieben, nicht mehr zu verstecken – ich küsste zum ersten Mal eine Frau in der Öffentlichkeit – verlor ich in diesem Moment einen Teil meiner Zugehörigkeit und Sicherheit.


Ich empfinde Hochachtung für alle, die die Welt abseits ausgetretener Pfade erkunden. Menschen, welche nie die Chance hatten, der Norm zu entsprechen oder die durch disruptive Ereignisse aus ihrem geregelten Alltag gerissen werden, sind nicht selten Wegweiser:innen für ein erfülltes und sinnhaftes Leben.
The Road Less Travelled
Es gibt Menschen, die sich trotz der Risiken bewusst für die Freiheit entscheiden, ihr Leben ganz anders zu gestalten. Je nach Grad der Freiheit, welche die Person sich nimmt, kann dies mit milder bis hin zu lebensbedrohlicher sozialer Marginalisierung einhergehen. Ein tendenziell mildes Beispiel* ist, dass mein erstes sichtbares Verlassen der heteronormativen Form zu lieben – nämlich eine Frau in der Öffentlichkeit zu küssen – mit unangenehmen Zurufen quittiert wurde. Aufgrund der Freiheit, die ich mir genommen habe, meine authentische Art, zu lieben nicht zu verstecken, verlor ich in diesem Moment einen Teil meiner Zugehörigkeit und Sicherheit.
Gleichzeitig kann die Entscheidung, sich selbst treu zu sein und Freiheit zurückzuerobern, einen wertvollen Beitrag zur individuellen und kollektiven Lebensgestaltung beisteuern. Mit der Art, wie wir innerhalb der Empathie Initiative mit Geld umgehen, bewegen wir uns weit ausserhalb gemeinhin akzeptierter Normen «vernünftiger» Geschäftsmodelle. Wir ernten immer wieder Unverständnis und Kritik dafür, dass wir unsere Arbeit nicht verkaufen und unsere Löhne nicht meritokratisch, sondern im Dialog über Bedürfnisse bestimmen. Dennoch erlebe ich das Brechen mit diesen Normen als befreiend. Wir kreieren damit einen Prototyp für ein Geschäftsmodell einer Welt, in der so viel mehr möglich ist.
Andere haben nicht die Wahl, sondern werden durch das sozio-kulturelle Milieu, in das sie geboren wurden oder durch unvorhergesehene Lebensereignisse von den ausgetretenen Pfaden weggedrängt. Dieser Verlust von Zugehörigkeit und Sicherheit ist besonders gravierend, weil er – zumindest in gewissen Fällen – nicht mit mehr Freiheit und Authentizität einhergeht.
Trotzdem möchte ich auf keine Weise andeuten, dass Menschen «on the road less travelled» ** zu bemitleiden sind. Im Gegenteil, ich empfinde Hochachtung für alle, die die Welt abseits ausgetretener Pfade erkunden. Ausserdem ist es nicht selten so, dass Menschen, welche nie die Chance hatten, der Norm zu entsprechen oder die durch disruptive Ereignisse aus ihrem geregelten Alltag gerissen werden, wenn genug Resilienz und Unterstützung vorhanden ist, zu Wegweiser:innen für ein erfülltes und sinnhaftes Leben werden.
Vielleicht entspricht dieses Leben nicht dem einen kulturell vorgeschriebenen Pfad, aber es ist ein Leben der Authentizität und davon brauchen wir mehr in unserer Welt.
* Mich hat dieses Erlebnis sehr geschmerzt und mich unsicher fühlen lassen. Gleichzeitig möchte ich anerkennen, dass ich in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern einigermassen geschützt bin. Aber auch hierzulande ist noch ein weiter Weg vor uns. Hier könnt ihr nachlesen, wie LGBT-Rechte der Schweiz im internationalen Vergleich aussehen.
** Diese englische Metapher wird verwendet, um einen unkonventionellen oder weniger häufig gewählten Weg im Leben oder in Entscheidungen zu beschreiben. Es stammt aus dem Gedicht «The Road Not Taken» von Robert Frost und bezieht sich darauf, dass manchmal der Weg, den wir wählen, unser Leben in bedeutender Weise prägen kann, besonders wenn wir uns für den ungewöhnlicheren oder schwierigeren Weg entscheiden.
Es kann es beängstigend sein, neue Wege zu begehen, weil die fundamentalen Bedürfnisse Zugehörigkeit und Sicherheit bedroht sind. Ausserdem werden Menschen, die bereits systemisch benachteiligt sind, dem Risiko ausgesetzt, ihre Marginalisierung auszuweiten. Wir brauchen Unterstützung.

Meine Vision ist, dass die gesamte Menschheitsfamilie Zugehörigkeit zueinander und zur mehr-als-menschlichen Welt empfindet, dass ein Leben im Schutz dieser Gemeinschaft möglich wird und dass wir dieses Leben dennoch in Freiheit und Authentizität führen können. Es ist an der Zeit, diese Bedürfnisse wiederzuvereinigen, nicht nur für uns, sondern auch im Namen aller Generationen nach uns.
Wir brauchen einander
Weil Zugehörigkeit und Sicherheit fundamentale Bedürfnisse sind, kann es beängstigend sein, neue Wege zu begehen. Besonders, wenn wir allein sind. Wie gesagt, für Freiheit und Authentizität zu stehen, kann uns in prekäre Lebenssituationen bringen. Ausserdem werden Menschen, die bereits systemisch benachteiligt sind, dem Risiko ausgesetzt, ihre Marginalisierung auszuweiten.
Darum brauchen wir Unterstützung, wenn wir Normen brechen. Als ich meinen geregelten, gut bezahlten Job für eine damals noch sehr vage Idee kündigte (aus der heute die Empathie Initiative geworden ist), war ich nicht allein. Eine gute Freundin war an meiner Seite und hat mich emotional und praktisch unterstützt.
Um für einen systemischen Wandel einzustehen und eine schönere, authentischere Welt zu schaffen, brauchen wir einander. Wenn wir uns zusammen tun und einander den Rücken stärken, können wir gleichzeitig Zugehörigkeit erleben und unsere Authentizität reclaimen. Wenn wir Banden bilden, uns organisieren und zusammenarbeiten, wird so viel möglich.
Heute ist es noch eine Vision, aber vielleicht schon morgen nicht mehr: dass die gesamte Menschheitsfamilie Zugehörigkeit zueinander und zur mehr-als-menschlichen Welt empfindet, dass ein Leben im Schutz dieser Gemeinschaft möglich wird und dass wir dieses Leben dennoch in Freiheit und Authentizität führen können. Es ist an der Zeit, diese Bedürfnisse wiederzuvereinigen, nicht nur für uns, sondern auch im Namen aller Generationen nach uns.
Two roads diverged in a wood, and I—
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.
– Robert Frost
So, das war’s für heute.
Ich hoffe, ich sehe viele von euch in Wangs am Empathie Stadt Wochenende «The Road Less Travelled» oder anderswo abseits ausgetretener Pfade.
Ich freue mich auf euch.
E> Tanja
PS: Hast du diesen Essay genossen? Ich hoffe es. Schreib mir gerne, wenn ja.
PPS: Wir machen all unsere Inhalte frei zugänglich, weil wir unsere Arbeit nicht verkaufen. Das ist eine Art, wie wir mit Normen brechen, an die wir nicht glauben.
PPPS: Wir haben nichts gegen Geld. Wir wollen es einfach nicht transaktional mit dir tauschen.
PPPPS: Wenn du findest, dass das keinen Sinn ergibt, komm an unser E> Wochenende am 24. – 26. Mai, da reden wir gerne ausführlich mit dir über das Thema Geld.
PPPPPS: Wenn du unser Projekt finanziell unterstützen willst, nehmen wir das sehr gerne an. Hier kannst du etwas Twinten. Auch kleine Beiträge unterstützen uns!
PPPPPPS: Grosse natürlich auch. Kontaktiere uns, wenn du eine grössere Spende tätigen möchtest.
PPPPPPPS: Regelmässige Beiträge unterstützen uns am meisten, weil sie uns Planungssicherheit geben. → werde Fördermitglied
PPPPPPPPS: Also tschauu ez :*
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