sE>ndung Flavien/💔du bist nicht krank
Der heutige Newsletter enthält einen Brief von Noe*, die mit Angstzuständen lebt, an Janus*, der von Depression betroffen ist. Ausserdem: die aktuelle sE>ndung mit Sonja Wolfensberger und Flavien Gousset (sie reden übers Schweigen und darüber, dass Flavien den Ansatz der Empathie Stadt anfangs doof fand) sowie noch nie veröffentlichte Bilder aus unserem Archiv des allerersten E> Treffens.
*Namen geändert. Wir kennen Noe aus der Empathie Stadt Gemeinschaft. Sie möchte anonym bleiben.

Wir haben für euch das Archiv durchstöbert. Das Resultat:
💼 sE>ndung: Flavien Gousset
💼 Persönlicher Brief: Sanismus
💼 Unveröffentlichte Bilder: 1. E> Treffen
❤️🔥 Flavien könnt ihr ĂĽbrigens auch wählen.
Und hier ist der nächste E>inführungsworkshop.
Nun folgt ein Brief von Noe, die mit Angstzuständen lebt, an Janus, der von Depression betroffen ist. Als Noe uns diesen Brief gezeigt hat, war uns sofort klar, dass wir ihn veröffentlichen wollen. Ihre Perspektive spricht uns aus dem Herzen.
Lieber Janus
Manche Leute nennen die Diskriminierung, die du und ich tagtäglich erleben, «Sanismus». Als ich diesen Begriff zum ersten Mal gehört habe, fand ich es hilfreich, endlich ein Wort zu haben, mit dem ich die Diskriminierung benennen kann, die mich seit meiner Kindheit begleitet.
Ich befĂĽrworte die Bewegung, die hinter diesem Begriff steht, trotzdem mag ich das Wort «Sanismus» nicht besonders. Er bezieht sich auf die Diskriminierung der «VerrĂĽckten», der «psychisch Kranken». Ich wehre mich aber dagegen, meine Angstzustände und deine Depression als krank zu bezeichnen, während die emotionale Betäubung, die fĂĽr die Ausbeutung von Arbeitskräften und den Raubbau an unserer Erde erforderlich ist, als gesund angesehen wird. «It is no measure of health to be well adjusted to a profoundly sick society.» Dieses Zitat des Philosophen Jiddu Krishnamurti hat mich schon immer berĂĽhrt.
Ich denke, dass der Begriff «Sanismus» das Phänomen unpassend benennt, denn was meiner Meinung nach tatsächlich geschieht, ist eine Diskriminierung einer angemessenen emotionalen Reaktion auf das Niveau der öko-sozialen Zerstörung unserer Welt. Mein Herz bricht jeden Tag aufs Neue, wenn ich das Leid der Welt spĂĽre. Ich weiss, dass auch dein Herz jeden Tag bricht. Sei es, weil wir uns auf das globale, systemische und historische Leid der Erde einlassen, anstatt es zu ignorieren, sei es, weil dieses Leid unser Familiensystem beeinflusst und unsere persönlichen Traumata bedingt.
Ich wehre mich aber dagegen, meine Angstzustände und deine Depression als krank zu bezeichnen, während die emotionale Betäubung, die für die Ausbeutung von Arbeitskräften und den Raubbau an unserer Erde erforderlich ist, als gesund angesehen wird.


Ich weiss nicht, wie es dir geht mit deiner Depression, aber ich habe gelernt zu denken, dass meine Phasen erhöhter Angst ein individuelles Versagen sind. Ich denke manchmal, dass ich in meinem Innern kaputt bin, weil ich so viele Ängste habe.
Kein Wunder, sind wir nicht glücklich. Das Leben unsäglich leidvoll und sinnlos zu empfinden (du) oder tiefe Angst zu verspüren (ich), scheinen mir keine unpassenden Zustände zu sein, wenn ich mir den Zustand der Welt vergegenwärtige.
Ich weiss nicht, wie es dir geht mit deiner Depression, aber ich habe gelernt zu denken, dass meine Phasen erhöhter Angst ein individuelles Versagen sind. Ich denke manchmal, dass etwas mit mir nicht stimmt, dass ich in meinem Innern kaputt bin, weil ich so viele Ängste habe. Ich stimme diesem Glaubenssatz nicht bewusst zu. Er kommt in meinen Gedanken auf, weil ich in einer Kultur aufgewachsen bin, in der meine Ängste keinen Platz haben. Sie wurden mir ausgeredet, ich wurde für sie ausgelacht und ich habe gelernt, mich für sie zu schämen. In unserer Kultur werden adäquate emotionale Reaktionen auf persönliches und systemisches Leid marginalisiert und pathologisiert. Emotionale Taubheit und Skrupellosigkeit werden hingegen normalisiert und nicht selten sogar finanziell belohnt. Darum verwundert es mich nicht, dass ich meine Diskriminierung internalisiert habe. Ich kann mir vorstellen, dass es dir gleich geht.
Seit ich gelernt habe, dass diese mich abwertenden Gedanken nicht aus mir herauskommen, sondern dass sie Ausdruck eines diskriminierenden Systems sind, habe ich angefangen, mich deutlich umzuorientieren. Ich habe begonnen, mich strikt von Orten wegzubewegen, an denen meine Emotionen als unnormal oder krank gewertet werden. Ich umgebe mich nur noch mit Menschen, bei denen ich mich mit all meinen Empfindungen zeigen kann: mit meiner Freude, meiner Trauer, meiner Wut und auch meiner grössten Angst. Es gibt nicht viele Menschen, mit denen das fĂĽr mich möglich ist. Du bist einer davon und dafĂĽr bin ich dir unbeschreiblich dankbar.❤️
Seit ich gelernt habe, dass diese mich abwertenden Gedanken nicht aus mir herauskommen, sondern dass sie Ausdruck eines diskriminierenden Systems sind, habe ich angefangen, mich deutlich umzuorientieren.

Vielleicht wollte ich mit diesem Brief einfach nur sagen, dass ich Hochachtung vor deinem Überleben habe. Mir kommen die Tränen, während ich das schreibe.
Plum Village ist einer der wenigen Orte, an denen ich mich einer ganzen Gruppe mit meinen Ängsten zeigen konnte. Ich war beeindruckt, wie viele Menschen da über ihr gebrochenes Herz, Depression, Suizidalität, Angstzustände, Essleiden, Klima-Hoffnungslosigkeit etc. sprachen und alles gekonnt und liebevoll in der Gemeinschaft gehalten wurde. Kurse der Empathie Stadt baten mir ein ähnliches Erlebnis. Dank der Kultur des empathischen Zuhörens habe ich Menschen kennengelernt, an die ich mich wenden kann, wenn meine Ängste mich besuchen. Sie hören mir zu und begleiten mich durch die Angst, bis ich an einem Ort bin, an dem ich mich wohler fühle.
Ich sage nicht, dass diese Dinge deine Probleme lösen würden. Ich hatte bloss den Impuls, ein wenig von meinem Weg zu erzählen und auch darüber zu schreiben, dass wir beide eine ähnliche Art der Diskriminierung erleben. Selbstverständlich auf unterschiedliche Weise. Keineswegs will ich sagen, dass ich weiss, was dein Weg ist oder was dazu führen würde, dass du dich weniger verloren fühlst in der Welt.
Vielleicht wollte ich mit diesem Brief einfach nur sagen, dass ich Hochachtung vor deinem Ăśberleben habe.
Mir kommen die Tränen, während ich das schreibe.
Du bist nicht krank. Du fĂĽhlst.
Sei ganz fest umarmt.
Deine Noe

Vielen Dank fĂĽr deine Worte, Noe. Sie sprechen uns aus dem Herzen. ❤️
E> Tanja, Livio und Lara
PS: Nun folgt eine Galerie mit ein paar Bilder des ersten Treffens im Sommer 2020 in der Kategorie warum-wir-die-wohl-nie-veröffentlicht-haben-? (klick dich durch)
PPS: Es fĂĽhlt sich unpassend an, diese Bilder direkt nach dem berĂĽhrenden Brief von Noe anzufĂĽgen. Schliesst die E-Mail vielleicht besser und schaut euch die SchnappschĂĽsse morgen an.
PPPS: Kommt uns kennenlernen am EinfĂĽhrungsworkshop im Ortsmuseum Zollikon mit Tanja Walliser.
PPPPS: Empathie Stadt Wochenende auf dem Gut Rheinau mit Annabelle Ehmann: Verbringe eine Zeit in Gemeinschaft mit Menschen, die sich dafĂĽr interessieren, wie eine empathische Landwirtschaft funktioniert und was Menschen aus der Stadt dazu beitragen können. Offen fĂĽr alle, keine Vorkenntnisse nötig, du kannst auch nur einen halben Tag kommen, 15. – 17. Sept.
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