🎄Habe Weihnachten abgesagt
Hoi
Ich wünsche mir eine Dialogform, in der meine Ehrlichkeit nicht zu Distanz, sondern zu mehr Nähe in der Beziehung führt. Es folgt eine etwas andere Weihnachtsgeschichte von mir, Tanja Walliser.

Ich sagte meinem Vater, dass ich an Weihnachten nicht nach Hause kommen werde.
🎄 Absage an Weihnachten
Am Sonntag vor zwei Wochen habe ich meinem Vater mitgeteilt, dass mein Sohn und ich dieses Jahr an Weihnachten nicht nach Hause kommen werden. Das wird das erste Mal sein, dass wir fehlen. Heute ist Dienstagmorgen und ich mache mich bald wieder auf den Weg zu ihm. Wir treffen uns auf ein gemeinsames Mittagessen, um noch mal ĂĽber die Absage zu reden.
Ich kann mir vorstellen, dass einige von euch nachvollziehen können, was ich in den vergangenen Jahren erlebt habe: Dieses GefĂĽhl, sich vor Weihnachten zu fĂĽrchten oder genauer gesagt, die unbehagliche Vorahnung, dass am sogenannten «Fest der Liebe» neben der Liebe auch schwierige Beziehungs-Dynamiken aufflammen werden. Letztere haben mich schliesslich zu meiner Entscheidung gebracht, nicht ans grosse Familien-Weihnachtsfest zu gehen.
Versteht mich nicht falsch, mein Vater ist mir sehr wichtig und die Entscheidung, nicht zu Hause zu feiern, habe ich nur mit schwerem Herzen getroffen. Ich hatte Sorge, dass mein Entschluss, nicht an den Festlichkeiten teilzunehmen, als eine allgemeine Aussage verstanden würde, dass ich mir eine weniger nahe Beziehung zu ihm wünschen würde. Ich hatte Sorge, meinen Vater zu verletzen.

In der Vergangenheit habe ich manchmal Ausreden erfunden, warum ich nicht an Familienzusammenkünften teilnehmen könne.
🎄 Wieso eine Absage an Weihnachten keine Absage an die Beziehung ist
Ich habe also meinem Vater erklärt, dass es sich für mich emotional sicherer anfühlt, dieses Jahr nicht dabei zu sein und dass diese Entscheidung daher komme, dass ich meine Beziehung zu ihm vertiefen wolle.
Diese grossen Familienzusammenkünfte können sich für mich und meinen Sohn komplex und unangenehm anfühlen. Darum möchte ich sie – zumindest für eine Weile – vermeiden. Ich möchte mich dafür umso mehr auf meine Beziehung zu meinem Vater und seine Beziehung zu meinem Sohn konzentrieren. Mich dafür an Weihnachten zu verbiegen, wäre hierfür kontraproduktiv.
In der Vergangenheit habe ich manchmal Ausreden erfunden, warum ich nicht an Familienzusammenkünften teilnehmen könne. Ich habe beispielsweise gesagt, wir könnten nicht kommen, weil wir krank seien. Diese Aussagen waren nicht authentisch, aber sie waren die einzige Art, die mir zugänglich war, um mich für meine Bedürfnisse einzusetzen.
Nur dank viel empathischer Unterstützung aus meinem Umfeld gelang mir der Schritt, das anzuwenden, was wir in unseren Kursen vermitteln: ehrlich zu sagen, was in mir vorgeht und was mir wichtig ist, anstatt Ausreden zu erfinden. Es fühlte sich wie ein riesiger Schritt an, aber es war der, der sich für mich wahrhaftig und richtig anfühlte. Manchmal fühlen sich diese Momente, in denen es mir gelingt, aus einer Position der Authentizität heraus handeln, wie von Magie getragen an. Es sprühen Funken neuen Lebens in die betroffene Beziehung, weil jetzt die Wahrheit auf dem Tisch liegt. Nun können wir uns wieder wirklich begegnen.
Der vergangene Sonntag mit meinem Vater fühlt sich wie einer dieser Momente an. Nachdem ich mich ihm so ehrlich zeigen konnte, fühlte ich mich viel freier und ich erlangte mehr Kapazität, mich darauf zu konzentrieren, was wirklich zwischen uns zählt.

Nachdem ich mich ihm so ehrlich zeigen konnte, fühlte ich mich viel freier und ich erlangte mehr Kapazität, mich darauf zu konzentrieren, was wirklich zwischen uns zählt.
🎄 Ehrlichkeit und Gewaltfreiheit
An Weihnachten kann es besonders schwierig sein, unsere Authentizität zu zeigen, weil es diverse kulturelle Erwartungen und Normen gibt, die uns sagen, wie Dinge sein „sollten»: was es bedeutet, eine gute Tochter, gute Eltern oder ein gutes Familienmitglied zu sein. Sich nicht an weihnachtliche Normen zu halten, kann sich anfĂĽhlen, als wĂĽrde ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen.
Um darauf zu hören, was wirklich für uns funktioniert und entsprechend zu handeln, ist Unterstützung elementar. Ich hätte es niemals allein geschafft. Ich habe mit anderen mir nahestehenden Menschen darüber gesprochen und mir wurde ein empathischer Raum eröffnet, um mich zu reflektieren. Das hat mir geholfen, herauszufinden, was für mich stimmt und es hat mir die Kraft gegeben, es mit meinem Vater anzusprechen.* Diese Art zwischenmenschlicher Unterstützung macht so viel möglich. Sie ist mir unbeschreiblich kostbar.
Für mich ist diese Geschichte tief mit Gewaltfreiheit verbunden. Oft denken Menschen, wenn sie von unserem Projekt und unserem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation hören, dass es darum geht, nett oder sogar unterwürfig zu sein. Aber das ist es überhaupt nicht. Es geht darum, für das einzustehen, was sich für uns wahr und richtig anfühlt, jedoch auf eine Weise, die andere nicht herabsetzt. Es geht darum, sowohl sich selbst als auch die andere Person in ihrer ganzen Verletzlichkeit und Schönheit zu ehren.
So habe ich zum Beispiel nicht gesagt: „Ich komme nicht nach Hause, weil ihr schrecklich fĂĽr mich und meinen Sohn seid.» Eine solche Aussage hätte die Beziehung nicht gestärkt (und sie wĂĽrde auch nicht der Wahrheit entsprechen, sondern einem Urteil). Stattdessen habe ich mich darauf konzentriert, was die Beziehung braucht, um zu gedeihen. In diesem Fall war das nicht das traditionelle Weihnachtsfest mit der Familie, sondern Treffen mit meinem Vater unabhängig vom Rest der Familie. In dieser Konstellation kann ich mich ihm sehr nahe fĂĽhlen. Also habe ich den Fokus darauf gelegt, was ich mit meinem Vater erschaffen möchte, anstatt verurteilend das Familienfest kleinzureden. Ich weiss, dass einige dieses Fest, genau so wie es ist, sehr geniessen und das freut mich fĂĽr diese Menschen. Ich möchte niemandem etwas davon wegnehmen.
* Ich meine damit nicht, dass alle aufhören sollen, an Weihnachten mit der ganzen Familie zu feiern. Die authentische Entscheidung, wie Weihnachten – oder auch einen ganzen Lebensentwurf – zu gestalten, wird für jede Person anders ausfallen. Ich erzähle meine Geschichte bloss als Beispiel dafür, wie Authentizität in der Kommunikation zu Nähe führen kann.

Wir verbreiten eine Dialogform, in der Ehrlichkeit nicht zu Distanz, sondern zu mehr Nähe in der Beziehung führt.
🎄 Trauer und Vision
Ich trauere darĂĽber, wie wenig hilfreich die Kommunikationsmuster waren, die ich im Umgang mit solchen Situationen gelernt habe. Kulturelle Normen und Erwartungen, wie Dinge „funktionieren sollten», haben mich davon entfremdet, in schwierigen Momenten das auszudrĂĽcken, was in mir vorgeht. Diese Muster – zu verstecken, zu vermeiden oder auch die Wahrheit zu verzerren – so sehr ich anerkenne, dass sie einem Ăśberlebensmechanismus entspringen, schaffen in meinem Erleben Distanz in unseren Beziehungen.
Im Gegensatz dazu hat mir das Zeigen dessen, was wirklich in mir vorgeht – selbst wenn das bedeutet, an Weihnachten nicht nach Hause zu gehen – geholfen, meinem Vater näher zu sein. Diese Art in Beziehung zu sein ist das, was wir auf der interpersonellen Ebene* mit unserem Projekt verbreiten: eine Gesprächskultur, die es ermöglicht, zu uns zu stehen und gleichzeitig die Beziehung zu anderen zu vertiefen. Eine Dialogform, in der meine Ehrlichkeit nicht zu Distanz, sondern zu mehr Nähe in der Beziehung führt.
PS: Ich möchte kein idealisiertes Bild von mir zeichnen. Es fällt mir oft schwer, ehrlich zu sagen, was in mir vorgeht und für das einzustehen, was mir wichtig ist. Ich erzähle euch diese Geschichte nicht, weil ich mich für perfekt halte. Im Gegenteil: Was ich euch erzähle, war ein bedeutender Moment, gerade weil es mir in vielen anderen Momenten nicht gelingt, mich auf diese Weise auszudrücken. Das will ich betonen, weil ich mir denke, dass es einigen von euch auch so geht. Ich möchte mich in Solidarität mit euch verbinden in der Schwierigkeit dieses Phänomens.
PPS: Ich weiss, Postskripta kommen eigentlich erst nach dem Liebe-GrĂĽsse-Abschnitt.
PPPS: Also
Viel LiebiÂ
und liebi GrĂĽess
E> Tanja
* Selbstverständlich spielen systemische Faktoren immer auch eine Rolle in interpersonellen Beziehungen. Mehr dazu, wie systemische Internalisierungen unseren Alltag begleiten, kannst du in diesem Blog von uns nachlesen.

PPPPS: Wie die Geschichte weiterging: Beim Verabschieden nach dem Mittagessen am Dienstag sprach mich mein Vater zum ersten Mal seit Jahren wieder mit meinem alten Kosenamen an. Ausserdem sagte er zu, am Besuchsmorgen an der Schule meines Sohnes teilzunehmen. Das mögen kleine Gesten sein, aber für mich bedeuten sie die Welt.
PPPPPS: Ein Weihnachtsgeschenk an Basel: Die Gründung von Empathie Stadt Basel steht! Es ging schneller als erwartet. Daniel Drogniz wird den ersten Grundlagenkurs in Empathie und Konfliktlösung in der schönen Stadt am Rhein halten. Wir starten am 30. Januar 2025. Die Vorfreude ist riesig. Danke an alle, die uns tatkräftig unterstützt haben. <3
PPPPPPS: Falls ihr euch fragt, in der Empathie Stadt Zug haben wir uns entschieden, mit einer kleinen Gruppe einen EinfĂĽhrungskurs an zwei Abenden durchzufĂĽhren. Janine Sutter hat sich sehr gefreut, diese beiden Abende in dem gemĂĽtlichen Rahmen zu leiten. (Janine wurde ĂĽbrigens kĂĽrzlich in die Schulpflege von RĂĽschlikon gewählt. Gratulation! ⚡)
PPPPPPPS: Falls du Weihnachten gerne hast und keine gemischten GefĂĽhle damit verbindest, war dieser Newsletter vielleicht Thematisch irrelevant fĂĽr dich. Als Kompensation dafĂĽr ein paar Weihnachtsemojis:Â 🎄🎅🤶❄️🎁✨⛄
PPPPPPPPS: Weil es so schön war in Zug, geht es weiter! Johanna Meyerhofer wird einen vollständigen Grundlagenkurs in Empathie und Konfliktlösung in Zug halten.
PPPPPPPPPS: «Aber wie soll das mit Kindern gehen?!», ist eine Frage, die in Kursen nicht selten aufgebracht wird. Unsere Trainerin Nija Böckler (selbst Mutter eines Kindes) hat zwar keine allgemeingĂĽltige Formel als Antwort, widmet aber einen ganzen Abend der gemeinsamen Erforschung des Themas Empathie und Konfliktlösung mit Kindern.
PPPPPPPPPPS: Also fertig ez, schaut zu euch und zueinander. ❤️
PPPPPPPPPPPS: Ah nei, no öpis allerletschts: Der Schnupperabend in ZĂĽrich am ersten Abend des Grundlagenkurses in Empathie und Konfliktlösung ist bereits ausgebucht 🎉, aber du kannst dich noch fĂĽr den gesamten Kurs anmelden (Start: 13. Jan 2025).
PPPPPPPPPPPPS: Bis im Neuen Jahr! E>
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