🔍Schadet Livio dem E> Ruf?

Am Abend im Bett bemerkte Livio, wie seine Gedanken immer wieder zu dieser einen Aussage zurück kreisten. Er machte sich Vorwürfe. «Ich bin nicht gut genug. Ich schade dem Ruf der Empathie Stadt. Ich bin unwürdig.»


Heute vertiefe ich, was ich am Schluss der 8. sE>ndung✊🏽 erwähne: Jede persönliche Erfahrung geschieht in einem systemischen Kontext mit einem dazugehörigen kulturellen Narrativ. Ich schreibe darüber, wie ich dieses Wissen in der Kommunikation anwende.


Heute schreibe ich, Tanja Walliser. In der 8. sE>ndung «ThE> Road Less Travelled», mit Host Michelle Reichelt, könnt ihr meine ganz persönliche Geschichte nachhören, warum ich eine Leidenschaft habe, die systemische Linse von Nonviolent Communication (NVC) zu betonen. Ich sage bewusst «betonen», denn es geht nicht darum, sie hinzuzufügen. NVC ist ein systemischer Ansatz, der leider manchmal individualistisch ausgelegt wird.

Teaser: Es geht um mein Burnout,  Antonio Gramscis kulturelle Hegemonie, Adrienne Maree Browns Bann der Dankbarkeit, die schönere Welt gemäss Charles Eisenstein und Miki Kashtans Verständnis der systemischen Linse in der Kommunikation.  Die sE>ndung ist auf Englisch, weil es sich um eine Aufzeichnung eines Workshop-Inputs handelt.

Ich möchte diesen Newsletter nutzen, um detaillierter auszuführen, wie konkret anwendbar das ist, was ich – vielleicht etwas abstrakt – am Schluss der 8. sE>ndung erzähle.  Ich spreche darüber, dass jede individuelle Erfahrung in einem bestimmten systemischen Kontext mit einem dazugehörigen kulturellen Narrativ geschieht und darüber, welche wohltuenden Auswirkungen es haben kann, wenn ich die Aufmerksamkeit in der Kommunikation darauf lenke. 

Aber der Reihe nach. In der sE>ndung beschreibe ich eine Situation mit meinem Sohn. Für diesen Newsletter habe ich zwei weitere Geschichten aufbereitet. Die eine betrifft mich, die zweite ist eine Geschichte über Livio.


Kürzlich fragte mich eine Bekannte beim Mittagessen: «Hast du zugenommen?» Scham kam in mir auf. Ich blickte auf meinen noch halbvollen Teller. Der Appetit war mir vergangen.


Beispiele kultureller Narative, die unsere Kommunikation beeinflussen
Beispiele kultureller Narative, die unsere Kommunikation beeinflussen

Ich habe gelernt, meine Gefühle auf Bedürfnisse zurückzuführen. Meine Scham war direkt verbunden mit dem Bedürfnis, attraktiv wahrgenommen zu werden, beliebt zu sein und im Endeffekt dazuzugehören.


Kürzlich fragte mich eine Bekannte beim Mittagessen: «Hast du zugenommen?» Ich war für einen Augenblick verwundert über die Frage, dann überkam mich die Scham. Ich blickte auf meinen noch halbvollen Teller. Der Appetit war mir vergangen.

Durch die Auseinandersetzung mit NVC habe ich gelernt, meine Gefühle auf Bedürfnisse zurückzuführen. Meine Scham war direkt verbunden mit dem Bedürfnis, attraktiv wahrgenommen zu werden, beliebt zu sein und im Endeffekt dazuzugehören. Ich wusste nicht recht, wie reagieren. Das einzige, was ich wahrnehmen konnte, war die Scham über meinen Körper und eine zunehmende Abneigung gegenüber meiner Bekannten. 

Ich erzähle gleich, wie es weiterging. Zuerst möchte ich ein zweites Beispiel anfügen.

Als Livio Lunin seinen ersten Grundlagenkurs für die Empathie Stadt Zürich hielt, bekam er das Feedback, er würde zu wenig selbstsicher auftreten. Im Moment des Feedbacks war Livio noch entspannt. Erst am Abend zu Hause im Bett bemerkte er, wie seine Gedanken immer wieder zu dieser Aussage zurück kreisten. Seine Emotionen wurden dunkler. Er machte sich Vorwürfe. «Ich bin nicht gut genug. Ich schade dem Ruf der Empathie Stadt. Ich bin unwürdig.»

Wie ein Häufchen Elend sass er am nächsten Tag an meinem Küchentisch. Auf meine Frage, was er fühle, meinte er: «Selbsthass.» Die dazugehörigen angekratzten Bedürfnisse waren Kompetenz, Selbstsicherheit und (Bemerkung von Livio: Es kostet Überwindung, das in einem Newsletter preiszugeben) Selbstliebe. Was die Situation zusätzlich erschwerte, war sein Selbstvorwurf, er dürfe sich von einem negativen Feedback nicht dermassen aus der Bahn werfen lassen. Was sollte ich darauf antworten?


Wie ein Häufchen Elend sass Livio am nächsten Tag an meinem Küchentisch. Auf meine Frage, was er fühle, meinte er: «Selbsthass.» Die angekratzten Bedürfnisse waren Kompetenz, Selbstsicherheit und Selbstliebe.


Ich bin in einem System aufgewachsen, in dem es eine ganz bestimmte Norm gibt, wie weibliche Körper auszusehen haben: dünn.

Livio flossen Tränen über die Wangen. Er reflektierte, dass er durch seine männliche Sozialisierung gelernt hat, dass er nur würdig sei, wenn er souverän auftritt. Die Aufmerksamkeit auf die systemische Prägung zu lenken führte dazu, dass er trauern konnte, anstatt sich innerlich zu zerfetzen.


In beiden Situationen war ich dankbar, dass ich einiges von Miki Kashtan über Kommunikation gelesen hatte. Sie schlägt vor, sich folgende Fragen zu stellen, um unsere individuellen Erlebnisse zu verarbeiten:

  • Wie wird diese Situation durch das System oder die Struktur, in der ich lebe, geprägt?
  • Welche Narrative über die menschliche Natur, die ich kulturell erlernt habe, spielen in dieser Situation eine Rolle? 

Zurück zu meinem Mittagessen mit meiner Bekannten. Ich bin in einem System aufgewachsen, in dem es eine ganz bestimmte Norm gibt, wie weibliche Körper auszusehen haben: dünn. Als ich auf meinen Teller blickend diese systemische Realität innerlich betrachtete, kam neben der Scham eine weitere Emotion auf. Ich wurde wütend. Die Wut richtete sich aber nicht auf meine Bekannte, sondern auf das System, in dem diese Schönheitsnorm propagiert wird. Mit dieser neuen Emotion bemerkte ich ein weiteres Bedürfnis in mir. Ich wollte mich mit meiner Bekannten verbünden in der Ablehnung dieser Norm.

Hätte ich mir die systemische Frage nicht gestellt, wäre dieses weitere Bedürfnis vielleicht nicht zum Vorschein gekommen und ich hätte meine unangenehmen Gefühle nur auf meine Bekannte oder – noch verheerender – nur auf meinen Körper projiziert.

Ich blickte auf und meinte: «Diese Frage macht mich wütend. Aber nicht auf dich. Ich bin wütend über unser System und auf die dazugehörigen Schönheitsideale.» Diese Antwort entfachte ein bedeutsames Gespräch über Body-Shaming. Ich ass meinen Teller leer und wir bestellten Kuchen zum Nachtisch.

Mit Livio am Küchentisch spielte letztere Frage die grössere Rolle. Er reflektierte, dass er durch seine männliche Sozialisierung gelernt hat, dass er nur würdig sei, wenn er selbstbewusst, kompetent und souverän auftritt. Dieses Narrativ beeinflusst ihn in gewissen Situationen so stark, dass es bis hin zu Selbsthass führt, wenn er den Ansprüchen nicht gerecht wird. Livio flossen Tränen über die Wangen. Die Aufmerksamkeit auf die systemische Prägung zu lenken führte dazu, dass er trauern konnte, anstatt sich innerlich zu zerfetzen. Er fasste den Entschluss, diese Trauer mit der Person zu teilen, die ihm Feedback gegeben hat, um Verbundenheit in diesem Thema zu spüren.

Ich war nicht dabei, aber Livio erzählte, dass es ein bewegendes Gespräch gewesen war und dass beide geweint hatten. Livio meinte: «Das gemeinsame Weinen mit einem Mann über dieses Thema brachte Würde zurück. Eine andere Würde als die des klassisch männlich konnotierten Selbstbewusstseins. Eine echtere Würde.»


Livio meinte: «Das gemeinsame Weinen mit einem Mann über dieses Thema brachte Würde zurück. Eine andere Würde als die des klassisch männlich konnotierten Selbstbewusstseins. Eine echtere Würde.»


Was ich mit diesen beiden Geschichten veranschaulichen wollte, ist, wie sehr unser Erleben und damit auch unsere Kommunikation davon geprägt ist, ob wir unsere Aufmerksamkeit auf die uns umgebenden systemischen Umstände lenken oder nicht. Damit möchte ich selbstverständlich nicht sagen, dass die systemische Linse die einzig richtige Linse ist und die individuelle Linse verschmäht werden sollte. Beide Linsen helfen uns, einen Teil der Realität zu erblicken. Da ich aber in einer individualistischen Kultur aufgewachsen bin, ist es meine Sozialisierung, die systemische Linse auszulassen. Diese zu reclaimen ist ein ermächtigender Akt für mich – sowohl in der Kommunikation als auch in der Betrachtung des ganzen Lebens.

Es nimmt mich wunder, wie es für dich ist. 

E> Tanja

Michelle Reichelt während der Aufnahmen der sE>ndung

PS: Ich schreibe heute die Postskripta. Ich, also Michelle.

PPS: Reichelt.

PPPS: Falls ihr meinen Nachnamen wissen wolltet.

PPPPS: Janine ist mein zweiter Vorname.

PPPPPS: Also, ich, Michelle Janine Reichelt, habe Neuigkeiten! Ich werde meinen allerersten Grundlagenkurs in Empathie und Konfliktlösung halten. Und zwar auf Zoom. Das heisst, ihr könnt alle von zuhause aus auf dem Sofa dabei sein. Eigentlich ganz ähnlich, wie wenn ihr eine sE>ndung von mir hört.

PPPPPPS: Mit der zusätzlichen Möglichkeit, mir rein zu reden und Fragen zu stellen. Und mit Liveaufnahmen meines Kopfes.

PPPPPPPS: Ihr könntet sogar während meinem Input lauthals husten und schauen, ob ihr es schafft, mich damit aus dem Konzept zu bringen.

PPPPPPPPS: Wer hat Lust, am ersten Abend am 25. Oktober um 18 Uhr bei mir am Grundlagenkurs in Empathie und Konfliktlösung unverbindlich rein zu schnuppern?

PPPPPPPPPS: Du kannst danach frei entscheiden, die weiteren sechs Abende ebenfalls zu besuchen oder es beim ersten Abend zu belassen. Zahlen kannst du, was du willst, inklusive null.

PPPPPPPPPPS: Du kannst so viel Knoblauch essen, wie du willst und niemand riecht’s. 

PPPPPPPPPPPS: Ich habe auch schon mitbekommen, dass es Leute gibt, die sich nicht trauen, bei uns reinzuschnuppern oder die aus gesellschaftlichen Gründen erschwert teilnehmen können. Vielleicht weil sie schneller müde sind als andere Menschen, weil sie emotional etwas Belastendes durchmachen, weil sie sich um Kinder kümmern oder auch um Erwachsene, weil sie sich in anderen Gruppen nicht willkommen gefühlt haben oder gar Diskriminierung erlebt haben. Wenn es Bedenken gibt, die dich davon abhalten, bei uns teilzunehmen, melde dich bei mir (hier mit einem Klick). Es ist mir ein grosses Anliegen, mehr darüber zu erfahren und immer mehr Wege zu finden, wie wir unsere Räume an verschiedenste Bedürfnisse anpassen können.

PPPPPPPPPPPPS: Dieser Newsletter ist zwei Tage Arbeit, die Produktion der sE>ndung dauert etwa sieben Tage. Du kannst beides geniessen, ohne dafür zu bezahlen. Wenn du unsere Arbeit allerdings unterstützen möchtest, kannst du hier etwas spenden. Hier kannst du Twinten. Oder du kannst unser Fördermitglied werden.

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